Mitteilung

22.07.2022

Neue Forschungsstelle in Regensburg vorgestellt: „Kultur und Erinnerung. Heimatvertriebene und Aussiedler in Bayern“

Wissenschaftler untersuchen Folgen von Flucht und Zwangsmigration -  Freistaat fördert Einrichtung

Regensburg/München. Millionen Heimatvertriebener und Aussiedler fanden nach dem Zweiten Welt-krieg in Bayern eine neue Heimat. Oft unerkannt, beeinflussten sie Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Alltag im Freistaat, gleichzeitig haben später viele Vertriebene als Brückenbauer in ihre alte Heimat gewirkt. Aspekte dieser kulturellen Integration und des Identitätswandels in Bayern untersucht seit Sommer 2022 die neu eingerichtete Forschungsstelle „Kultur und Erinnerung. Heimatvertriebene und Aus-siedler in Bayern“. Einzelheiten erläuterten die Verantwortlichen am Freitag, 22. Juli 2022, in einem Pressegespräch am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg. Dabei betonten sie, wie relevant das Thema sowie die Rolle Bayerns als Zufluchtsort derzeit seien, gerade auch angesichts der jüngsten Fluchtbewegung, ausgelöst durch Russlands Angriff auf die Ukraine.


Finanziert wird die Forschungsstelle vom Freistaat Bayern mit 500 000 Euro für einen Zeitraum von zunächst drei Jahren auf Antrag der Regierungsfraktionen. „Ich bin stolz darauf, dass es mir gemeinsam mit einigen Kollegen im Bayerischen Landtag gelungen ist, das durchzusetzen“, sagte Sylvia Stierstorfer, die Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene, bei der Vorstellung. Die Landtagsabgeordnete hatte das Projekt maßgeblich angestoßen. „Denn es ist mir ein wichti-ges Anliegen, das öffentliche Bewusstsein für die Folgen von Flucht und Vertreibung seit dem Zweiten Weltkrieg zu sensibilisieren. Die Vertreibung und danach die Eingliederung der Heimatvertriebenen hat-ten eine gewaltige Umwälzung im Herzen Europas zur Folge. Trotzdem erinnert sich die Gesellschaft heute kaum noch an diesen Umbruch und wie er uns alle geprägt hat, dabei stammt in Bayern nahezu jeder Vierte aus einer Familie von Vertriebenen und Aussiedlern“, erinnerte sie. „Das Thema Flucht und Vertreibung ist nicht nur Geschichte – leider ist es in der Ukraine auch Gegenwart.“


Die Stelle ist eine gemeinsame Einrichtung des IOS und des Lehrstuhls für Geschichte Südost- und Osteuropas der Universität Regensburg. „Regensburg ist der ideale Ort dafür. Wir haben hier nicht nur die nötige wissenschaftliche Expertise, sondern am IOS und der Universität auch eine herausragende Infrastruktur für Forschende. Gerade unsere Bibliothek bietet einzigartige Bestände mit Literatur zu den Herkunftsregionen von Vertriebenen und Aussiedlern im östlichen Europa“, erklärte der Wissenschaftliche Direktor des IOS, Prof. Dr. Ulf Brunnbauer.


Die Forschungsstelle ist mit zwei neu geschaffenen wissenschaftlichen Stellen ausgestattet. Sie wird eigene Forschung betreiben und dabei mit Vertriebenenorganisationen kooperieren. Außerdem soll ein Netzwerk zu Forschenden im östlichen Europa aufgebaut werden, die sich mit Flucht und Vertreibung der Deutschen und anderer Minderheiten beschäftigen. Zudem wird die Forschungsstelle Erkenntnisse an die breite Öffentlichkeit vermitteln. Geleitet wird sie von Prof. Dr. Katrin Boeckh. Ziel sei es, nachhaltig wirkende Aspekte von Flucht und Integration Vertriebener seit dem Zweiten Weltkrieg aus einer regionalen und übergreifenden sowie europäischen Perspektive zu untersuchen, erläuterte die Historikerin.

„Gleichzeitig blicken wir auf gegenwärtige Entwicklungen. Denn Zwangsmigration großer Bevölkerungsteile ist auch ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Ich habe erlebt, dass gerade die Vertriebenenverbände aufgerüttelt sind durch das Schicksal der Menschen, die aus der Ukraine fliehen. Wir wollen auch die Erfahrungen dieser Menschen durch Interviews greifbar machen und in einen historischen Kontext setzen zum Schicksal der nach Bayern vertriebenen und geflüchteten Deutschen.“


Als Vorsitzender des Ausschusses für Staatshaushalt und Finanzfragen im Bayerischen Landtag hatte Josef Zellmeier die Finanzierung vorangetrieben. Zellmeier, der zugleich Vorsitzender der Karpatendeutschen Landsmannschaft Slowakei in Bayern ist, betonte: „Durch die hervorragende Integration sind Kultur und Geschichte der deutschen Heimatvertriebenen und Aussiedler sowie ihre besonderen Leistungen für den Aufbau unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg selbst in den Familien mit entsprechendem Hintergrund zu wenig verankert.“ Daher ist dem Landtagsabgeordneten die Forschungsstelle besonders wichtig: „Es ist unsere gemeinsame Verpflichtung, diese Lücke im Bewusstsein der gesamten Bevölkerung zu schließen. Deshalb freue ich mich sehr über dieses wichtige Forschungsprojekt“, sagte er.


Zuspruch erhält die Forschungsstelle auch von den Betroffenen. So sah es etwa Paul Hansel, der aus einer Familie, die aus Schlesien vertrieben wurde, stammt, und langjähriges Mitglied im Landesvorstand des Bundes der Vertriebenen (BdV) sowie im Stiftungsrat des Kulturwerkes Schlesien ist, ganz ähnlich. „Für uns Landsmannschaften ist eine solche Forschungsstelle von ganz besonderer Bedeutung, vor allem, was Aussiedler und Spätaussiedler angeht, zu deren Geschichte es bislang nur wenig Forschung gibt“, sagte Hansel. Als ehemaliger bayerischer Gymnasiallehrer findet er außerdem: „Wünschenswert wäre es, wenn das Thema zudem mehr Beachtung in den Lehrplänen unserer Schulen findet."

 

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